Wie Armut Kindheit und Jugend prägt – ein Interview

Juliane P.* wurde 1993 in Brandenburg geboren und studiert heute in Magdeburg. Als Kind besuchte sie eine AWO Kita – und so kam es, dass ihre Familie 1997 an der ersten AWO-ISS Kinderarmutsstudie teilnahm. Im Rahmen der Studie wurden bundesweit in 60 Tageseinrichtungen für Kinder (KiTa) der AWO Daten zu rund 1.000 im Jahr 1993 geborenen Jungen und Mädchen erhoben. Dabei stand zunächst das Thema „Armut im Vorschulalter“ im Fokus.

Wenn man einem Zustand einen Namen gibt, verstärkt sich die Hoffnungslosigkeit, weil sich der Zustand dadurch noch verfestigt.

Ihre Familie hat damals an der Befragung teilgenommen. Woran können Sie sich erinnern – wie war es für Sie, an der Studie teilzunehmen?

Ich erinnere mich nicht mehr an viel. Bevor ich kontaktiert wurde, hatte ich verdrängt, dass ich überhaupt mal an der Studie teilgenommen habe. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, erinnere ich mich wage, dass ich und meine Mutter Fragebögen ausgefüllt haben, als ich im Kindergarten war. Wir haben dann regelmäßig an Umfragen und Interviews teilgenommen. Im Nachhinein finde ich es sehr spannend so lange an einer Studie teilgenommen zu haben.

Würden Sie aus ihrer heutigen Sicht sagen, dass Sie in Ihrer Kindheit und Jugend von „Armut“ betroffen waren? Wie haben Sie sich damals gefühlt?

Aus heutiger Sicht würde ich schon sagen, wir waren in gewisser Weise arm. Damals war mir das nicht so direkt bewusst. Zumindest nicht so, dass ich es hätte benennen können. Aber natürlich habe ich es trotzdem gemerkt. Meine Familie musste sich Klassenfahrten vom Amt zahlen lassen. Wir haben große Anschaffungen auf Raten gemacht und wenn wir finanzielle Engpässe hatten, wurde mein Sparbuch aufgelöst. Zudem konnten wir uns nicht alles leisten oder zumindest war es nicht immer leicht, mir zum Beispiel eine Mitgliedschaft im Sportverein oder Ähnliches zu ermöglichen. Vor allem im Vergleich mit anderen Kindern fiel das schon auf und war mir bewusst.

Was oder wer hat Ihnen dabei geholfen, Ihren Weg zu finden?

Mir hat die Unterstützung meiner Freund*innen geholfen. Zum Beispiel habe ich damals auf der Suche nach einem Studiengang von ihnen den Tipp bekommen, mich in Magdeburg zu bewerben. Ich hatte als Backup einen Studienplatz in Frankfurt am Main angenommen. Das Leben dort und selbst den Umzug hätte ich mir aber nur schwer leisten können. Außerdem wollte ich zu dem Zeitpunkt wegen meines damaligen Freundes, Freund*innen und Familie nicht zu weit wegziehen.

Zudem würde ich jetzt nicht studieren, wenn meine Familie nicht darauf bestanden hätte, dass ich aufs Gymnasium gehe. Das war ursprünglich nicht mein eigener Wunsch, weil ich die Befürchtung hatte, nicht gut genug zu sein – obwohl mein Schnitt reichte.

Welche Unterstützung braucht es aus Ihrer Sicht bei den Übergängen in Kindheit und Jugend?

Ich glaube, mir hätten im Übergang zur weiterführenden Schule Angebote geholfen, durch die ich meine eigenen Interessen und Fähigkeiten besser hätte kennenlernen und austesten können. Das Einschätzen der eigenen Stärken und Schwächen fällt vielen schwer und bei mir kam es eher zur Selbstunterschätzung. Das Gleiche gilt für den Übergang von der Schule zum Studium oder in den Beruf. Angebote, die Perspektiven aufzeigen, Fähigkeiten erkennen helfen und fördern sowie Orientierungshilfen haben mir gefehlt. Zudem fehlt es an lebenspraktischen Bildungsangeboten. Es wird davon ausgegangen, dass die Eltern uns auf das „Erwachsen sein“ und alles was dazugehört (einen Haushalt führen, mit Geld umgehen etc.) vorbereiten. Aber nicht jedes Kind hat die Möglichkeit, diese Dinge aus dem Elternhaus mitzubekommen.

Mit Blick auf das Eingangszitat, was kritisieren Sie am Umgang der Gesellschaft mit dem Thema Armut?

Arm zu sein, ist mit einem Stigma verbunden. Deshalb gesteht sich auch kaum jemand gerne ein, „arm“ zu sein. Hilfe anzunehmen, ist mit Scham verbunden. Zudem ist es eines dieser Probleme, dass „die anderen“ betrifft. Es wird somit viel über die betroffenen Menschen geredet, aber nicht mit ihnen. Ich weiß, dass es vor allem schwierig ist, diejenigen unter den Betroffenen zu erreichen, die keine Hilfe annehmen wollen oder können. Trotzdem sollte Armut mehr aus Betroffenenperspektive betrachtet werden. Ich denke, indem man mehr mit Betroffenen redet und sie in Prozesse mit einbezieht, kann man Hilfsangebote ihren Bedürfnissen anpassen, realistisch gestalten und sie gleichzeitig zu mehr Selbstbefähigung und gesellschaftlicher Teilhabe bemächtigen. Außerdem sollte ihnen mehr Respekt entgegengebracht werden.

Es wird viel über die betroffenen Menschen geredet, aber nicht mit ihnen. Armut sollte mehr aus Betroffenenperspektive betrachtet werden.

Was ist Ihre Vision – wie kann unsere Gesellschaft dafür sorgen, dass in Zukunft kein Kind in Armut aufwachsen muss?

Leider glaube ich, dass es in diesem Gesellschaftssystem nicht möglich ist, Kinderarmut vollständig abzuschaffen. Solange wir in einem System leben, das auf Wettbewerb, Leistung und Kapital ausgerichtet ist, kann es keine gleichmäßige Aufteilung von Ressourcen geben. Dafür profitiert immer einmal zu oft jemand von der Armut der anderen. Solidarität geht dabei häufig nur bis zum eigenen Tellerrand.

*Der Name wurde zum Schutz persönlicher Daten geändert.